Zeichen · Schrift und Notationen Einführungsrede
Eröffnung der Sonderausstellung am Donnerstag, 09. Oktober 2025, 19.30 Uhr
Kein Exponat des British Museums in London zieht derart viele Besucher*innen an, wie es der sogenannte Stein von Rosetta tut, und das seit über 200 Jahren, seitdem er 1802 in die Sammlung des Museums gelangte, das in seiner Dauerausstellung heute ca. 8 Millionen Artefakte präsentiert. 762 Kilogramm schwer, aus dem Gestein Granodiorit bestehend, 112,3 mal 75,7 mal 28,4 Zentimeter groß, ist er das Bruchstück einer aus Memphis – der ehemaligen altägyptischen Hauptstadt – stammenden Stele, in die im Jahre 196 v. Chr. ein und derselbe Text einer priesterlichen Bekanntmachung in drei verschiedenen Sprachen eingemeißelt wurde. Nachdem sich diesen Steinbrocken erst die Franzosen 1799 im Rahmen des napoleonischen Feldzuges in der Nähe der Stadt Rosette unter den Nagel gerissen hatten, mussten sie ihn nach der Niederlage gegen die Engländer zwei Jahre später 1801 gleich wieder herausrücken, woraufhin er nach Großbritannien verschifft wurde. Der in drei Sprachen – ägyptische Stein von Rosetta, Granodiorit, 196 v. Chr., British Museum, London Hieroglyphen, Demotisch (eine Gebrauchsschrift im Umfeld des Fundortes) und Altgriechisch – in den Stein gehauene Text identischen Inhalts bot die sensationelle Gelegenheit, die lange verrätselte Bildschrift der Hieroglyphen (wörtlich übersetzt: „heilige Vertiefungen“) vollständig zu entschlüsseln. In den unterschiedlichen Schriftsystemen und seiner Mehrsprachigkeit war das Steinobjekt so konzipiert, dass er für ganz Seite 1 von 7 verschiedene Bevölkerungsschichten verständlich war: von den ägyptischen Priestern als religiöser Text (in Hieroglyphen), von den örtlichen Beamten (in Demotisch) und von den seinerzeit herrschenden griechischen Besatzern (auf Altgriechisch). Im buchstäblichen Sinne Grundstein der modernen Ägyptologie diente jener Stein von Rosetta fortan zur Entzifferung unzähliger weiterer zu Tage getretener Fundstücke in der Nahost-Region. Stein von Rosetta, Granodiorit, 196 v. Chr., British Museum, London (Detail; demotisch) Klaus Herzer, Gesetzestafel, 1996, Farbholzschnitt Manche Besucher*innen mögen sich vielleicht beim Gang durch die neue Sonderausstellung des Holzschnitt-Museums unter dem Titel Zeichen, Schrift und Notationen ein ebenso universales Übersetzungswerkzeug wünschen wollen, das dem Stein von Rosetta vergleichbar uns nun die Entschlüsselung der von Klaus Herzer ins Holz hineingeschnittenen, hineingeschriebenen geheimnisvollen Botschaften gestattete. Doch schon die Betitelungen der ausgestellten Arbeiten machen deutlich, dass wir es hier mit einem außerordentlich breiten Spektrum sowohl des Zeichenhaften als auch des Schriftlichen im erweiterten Sinne zu tun haben. Sie lauten u.a.: Brief und Botschaft, Gruß und Albumblatt, Notiz und Notation, Ur-Kunde und Überlieferung. Es handelt sich also mal um knapp gefasste Mitteilungen an einen sehr privaten Adressaten, mal um offizielle Schriftstücke und Dokumente amtlichen Charakters. An der einen Stelle begegnen wir still vor sich hin mäandernden, selbstvergessenen Ideen-Scribbles, die den Eindruck eines Seite 2 von 7 feinstofflichen Zeichengewebes hinterlassen, an der anderen Stelle scheinbar den sogenannten „in Stein gemeißelten Wahrheiten“, die Religionen oder politische Überzeugungen als unwiderruflich für sich reklamieren. Klaus Herzer, Überlieferung III, 1996, Farbholzschnitt Bei all den Vorschriften und Regelwerken, Passwörtern und PIN-Codes, mit denen wir uns im eigenen Alltag herumzuschlagen haben, sind wir möglicherweise aber auch ganz glücklich, eben gerade nicht über einen dementsprechenden Entschlüsselungsmechanismus zu verfügen. Denn so können wir uns jener Freiheit des Denkens, Empfindens und Assoziierens anheimgeben, anhand derer wir uns einen eher intuitiven und individuell verschiedenen Zugang zu Klaus Herzers Bildwelt zu verschaffen imstande sind. Schon bei der Einrichtung der neuen Ausstellung kamen innerhalb des engagiert tätigen Aufbauteams erstaunlich verschiedene Interpretationsansätze zur Sprache. Während sich die Einen angesichts des 1996 entstandenen Blattes Übersetzung an die Steintafeln des Moses mit den Zehn Seite 3 von 7 Geboten erinnert fühlten, glaubten die Anderen darin schlicht eine Art Einkaufszettel zu erkennen. Und mögen die beiden genannten „Schriftstücke“ in ihrer Bewertung noch so gegensätzlich sein – hier die über Jahrtausende überlieferten Gesetze, dort der Schmierzettel, der nach einmaligem Gebrauch einfach weggeworfen wird –, Klaus Herzer, Übersetzung, 1996, Farbholzschnitt ergibt sich doch eine verblüffende Analogie zwischen den beiden. Denn so wenig sich die Menschen seit jeher an die in den verschiedenen Kulturen festgeschriebenen ethischen Grundsätze eines friedlichen Miteinanders halten, so wenig fühlen wir uns meist an das auf dem Zettel für den Einkauf Angegebene gebunden, insbesondere dann, wenn wir von Anderen dazu beauftragt wurden. Der Weg vom einzelnen Bedeutungszeichen – eindeutig erkennbare Chiffre und Signal – zur Zeichnungsschrift als Spur prozesshafter Vorgänge und Rituale eines bildnerischen Tuns wird im Gesamtwerk von Klaus Herzer in jedem Falle ablesbar. Bei den in den frühen 1970er Jahren entstandenen Folgen der Zeichen und Runen Seite 4 von 7 repräsentieren große, klar umrissene Farbflächen und Körperformen stilisierte Elemente von Landschaft (Pflanze, Baum, ein Sich Erheben allgemein) oder auch die menschliche Gestalt. Klaus Herzer, Runen I, 1972, Farbholzschnitt 25 Jahre später prägt dagegen das Schreiben an sich – das Einschreiben ins Material, das Niederschreiben innerer Bilder in unterschiedlichsten Temperamenten wie Temperaturen – die Arbeit des Holzschneiders. Impulsiv gestisch, aggressiv abgehackt, den Schreibuntergrund massiv verletzend, geradezu maltraitierte Kerbhölzer können sie sein. Dann wieder ein fein vor sich hinfließendes Liniengespinst leiser Poesie, das erst zuletzt zart und gänzlich undogmatisch symbolhaften Charakter annimmt (wie z.B. die beschriebene wie ebenso die umschriebene Kreuzform mancher Darstellungen). Seite 5 von 7 Klaus Herzer, Schriftkreuz, 1996, Farbholzschnitt (li.) / Botschaft, 1996, Farbholzschnitt (re.) Stand der westeuropäische Holzschnitt als künstlerisches Medium im 19. Jahrhundert ohnehin unter dem Einfluss älterer japanischer und chinesischer Vorbilder, muss auch in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung von Schrift und Schreiben – der Kalligrafie – verwiesen werden. Zur Ausstellung des Berliner Humboldt Forums Schreibkunst und Schriftkultur – Faszination der Zeichen (2021/2022) heißt es so: „In ganz Ostasien sind chinesische Schriftzeichen nicht nur Mittel der Kommunikation, sondern auch ein Medium künstlerischen Ausdrucks. In Korea und Japan entwickelten sich daneben eigene Zeichensysteme. Die Schreibkunst zählt in allen drei Kulturen zu den wichtigsten Kunstformen und beeinflusst ihre Gesellschaften bis heute. Die unterschiedlichen Schriftsysteme stiften Identität, bestimmen das Kulturerbe und dienten auch zur Legitimation von Macht. Selbst Menschen, die sie nicht lesen können, sind von ihnen fasziniert.“ Klaus Herzer, Invention II, 2004, Farbholzschnitt Seite 6 von 7 Von der Faszination aber fremder, für die meisten von uns unlesbarer Schriftsysteme – ob nun chinesische Schriftzeichen oder ägyptische Hieroglyphen – ist es nicht weit zum Faszinosum der Musik, in den weiten Gefilden zwischen Barock, Klassik, Ragtime oder Jazz, von E- bis U-Musik gelegen. Die Notizen, Notate, Notationen, die Klaus Herzer in dieser Ausstellung vor uns ausbreitet, sind zwar nicht oder jedenfalls nicht ohne Weiteres dechiffrierbar, bringen aber in unserer Anschauung und Wahrnehmung dennoch reichhaltige Bilder zum Klingen, die mühelos den Übersprung von – high and low – Alltagskultur, Literatur, Musik und bildender Kunst bewältigen. Clemens Ottnad M.A., Kunsthistoriker, Stuttgart, Geschäftsführer des Künstlerbundes Baden-Württemberg










